07.11.2020
Das Nebuchadnezzar ist eine kleine Ikone der europäischen Craft Beer-Szene. Basierend auf einem Heimbrau-Rezept, landete in ihm eine unfassbare Menge Hopfen – zumindest für die damalige Zeit… Denn das Imperial IPA geht hart auf seinen zehnten Geburtstag zu, was in Europa normalerweise schon einen Platz im Craft Beer-Altenheim bedeutet.
fact sheet
NEBUCHADNEZZAR
Bierstil: Imperial IPA
IBUs (Bittereinheiten): 100 (!)
Alkoholgehalt: 8,5% vol
Gärung: obergärig
Zutaten: Wasser, Gerstenmalz, Weizenmalz, Haferflocken, Hopfen (Columbus , Simcoe , Centennial), Hefe

Alte Bekannte Treffen
Schon immer wieder spannend, Bieren, die einen einst begeistert haben, nach Jahren noch einmal Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht nur einmal war ich erstaunt davon, wie anders ich ein Bier mit den gemachten Erfahrungen und den damit einhergehenden Erweiterungen der eigenen Geschmackserwartungen wahrnahm. Meist war es dann eher eine Enttäuschung, weil sich der Horizont in der Zwischenzeit ein gutes Stück erweitert hatte, und ein Bier, das bei erster Gelegenheit noch ein wegweisender Leuchtturm gewesen war, nun eher wie ein Flackern im Rückspiegel wirkte.
In diesem Fall hatte ich die Gelegenheit, bei meinem Besuch im neu eröffneten TapHouse Frankfurt mit dem Nebuchadnezzar von Omnipollo einen alten bekannten nach sicherlich 4 Jahren mal wieder zu treffen.
Design Thinking
Henok Fentie und Karl Grandin gehören zu den schillernden Aushängeschildern der europäischen Craft Beer-(Pop)Kultur. 2010 mit dem klaren Anspruch gegründet, die Grenzen der Wahrnehmung von Bier hinter die bis dahin bekannten Horizonte zu verschieben, haben die Schweden mit Omnipollo ein kleines ikonographisches Imperium aufgebaut – und das ohne eine eigene Brauerei ihr Eigen zu nennen. Sie sind so etwas wie die Bier-Version des kosmopolitischen Jetsets: nihilistisch-verkopft und eklektisch-designverliebt, ohne feste Bindungen, die Bedeutung von Grenzen und Normen in einer unbedeutenden und verkrümelten Seitentasche des Reiserucksacks vergessen. Und das kommt nicht von ungefähr, haben sich hier doch zwei sehr umtriebige und ideenreiche Köpfe zusammengetan, die von zwei Seiten das Feld bestellen: während Henok sich als Wanderbrauer in anderleuts Brauereien durch die Weltgeschichte braut, sorgt Karl für die passende Garderobe seiner Schöpfungen, und zeichnet verantwortlich für die unverwechselbaren Designs, die tatsächlich einen nicht unerheblichen Anteil an der strahlenden Aura der Marke Omnipollo haben. Die unfassbaren Preise, die einige der Biere abrufen, sind dabei ebenso Ausdruck einer nerdig-elitistischen Haltung des Genusses als Distinktionsmerkmal, wie die grafischen und terminologischen Anlehnungen und Zitate, die sich nur solventen Bierfreund*innen höherer Bildung erschließen dürften. Die kreativen Ausleger auf der Brauseite wiederum finden sich zweifelsfrei auf Augenhöhe der internationalen Craft Beer-Avantgarde, und finden so auch in der nordamerikanischen Wiege der Bewegung regen Zuspruch, bzw. Absatz.
Don’t call it a comeback – I’ve been here for years!
LL Cool J
Ein Wiedersehen im schnell drehenden Craft Beer-Rummel
Das Nebuchadnezzar wiederum hat im Omnipollo-Universum eine Sonderstellung inne: es ist eines der ganz wenigen Biere, die fast seit Markengründung dauerhaft Teil der (im Vergleich zu den wechselnden Bieren) relativ dünnen core range sind. Das 8,5%ige Double India Pale Ale (DIPA) der schwedischen Craft Beer-Ikonen riecht für mich tatsächlich zunächst auch einmal nach den 2010er Jahren. Eine Idee des Malzkörpers bekommt einen satten Boost von gelben Steinfrüchten, dem Saft junger Orangen und einem Hauch Veilchen. Deutsche DIPAs aus den 2010ern rochen häufig ganz ähnlich. Im Gegensatz zu diesen, kommt das Nebuchadnezzar dann aber recht schlank daher. Denn nach den verlockenden Hopfenaromen, wurde man bei den deutschen Vertretern dieser Zeit, dann häufig von einer Mastigkeit erschlagen, die wenig Platz ließ für die tollen Aromen der sich in immer schnellerem Tempo revolutionierenden amerikanischen Hopfenvarietäten, mit ihren heute überwältigenden, eher an tropische Fruchtkörbe erinnernden Aromenspektren. Ich erschrecke fast bei dem Gedanken; die Wahrheit ist aber, dass die Entwicklung – gerade was die Bandbreite der IPAs (bzw. der Brautechnik und der Hopfenvarietäten) angeht – einfach zu rasant von statten ging, als dass viele Biere mit im Angesicht dessen nahezu biblischen 10 Jahren auf dem Buckel da heute noch konkurrieren könnten. Man bedenke nur, dass die ersten New England IPAs (NEIPA) in Deutschland erst ca. 5 Jahre später anzutreffen waren und Begriffe wie double dry hopped (DDH), juicy und hazy, die heute für viele zur ersten Voraussetzung einer Kaufentscheidung für ein IPA geworden zu sein scheinen, erst in den letzten 2-3 Jahren richtig Konjunktur hatten.1
Wie die Schweden immer wieder betonen, ist dieses Bier aus einem Hobbybrau-Rezept hervorgegangen, das den Einsatz für damalige Verhältnisse absurder Mengen an Hopfen vorsah. Heutige Hop Heads dürften über diese Aussage müde schmunzeln…
Fazit
Ich bin tatsächlich positiv überrascht. Häufig war es in der Vergangenheit insbesondere bei den hopfenintensiven IPAs so, dass Biere, die ich vor einigen Jahren zuletzt getrunken, und die mich da wirklich beeindruckt hatten, inzwischen wie Posterabzüge damaliger Exponate vorderen Ranges wirkten. Hier ist aber ein anderer Eindruck vorherrschend: das Nebuchadnezzar ist eine europäische Ikone, ein Markstein, der zum Klassiker geworden ist. Viele erinnern sich daran, wie herausragend es damals wirkte. Heute kann es damit als ein Leuchtturm in der zeitlichen Entwicklung des Stils dienen und lässt uns weniger hochmütig zurücksehen – in dem Wissen, dass die Hopfen-Vergangenheit nicht ganz so finster aussah, und es auch damals schon gut gemachte Biere mit hohem Hopfeneinsatz gab.2
1 Ich muss sagen, dass für mich die Omnipräsenz dieser freundlichen Hopfenbomben mit der seidigen Textur und der gefälligen Restsüße mittlerweile ein gewisses Ermüdungspotenzial tragen. Zudem sorgt sie in meiner Wahrnehmung auch für eine Abnahme der Verfügbarkeit einer breiten Vielfalt andere Stile, weil große Teile der raren Kühlschrankkapazitäten für die Cash Cows reserviert bleiben. Weitere Ausführungen dazu werde ich wohl aber noch einmal an anderer Stelle aufgreifen müssen…
2 Und tatsächlich kann man genau jetzt einen kleinen Trend ausmachen, der sich den fast vergessenen West Coast IPAs (z.B. bei Sudden Death, Orca Brau, Frau Gruber und anderen) mit neuer Liebe zuwendet.
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